Es heißt „Du wirst es später bereuen“. Und was, wenn nicht?
Ich stehe auf 10 Metern Höhe im Hochseilgarten Dülmen und schaue runter. Viel zu weit weg scheint der Boden, viel zu lang der Weg hinab. Drei erwartungsvolle Augenpaare sehen mich an. Ich soll springen. Mein Sicherungsteam gibt etwas Seil nach, sodass ich gleich ca. 3 Meter tief falle, bevor das Sicherungsseil mich hält und die Drei mein Gewicht auffangen. Mutzuspruch von unten. Soll ich springen? Und während ich hier so stehe, scheint die Welt sich nicht mehr zu drehen. Scheint plötzlich alles still zu stehen.
Warum mache ich das eigentlich?
Es heißt, "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt." Doch was ist, wenn ich es nicht wagen will?
Es heißt „Du wirst es später bereuen." Und was, wenn nicht?
Sie sagen „Du schaffst das schon." Doch was, wenn ich das gar nicht schaffen will?
Es heißt „Hab keine Angst und fürchte dich nicht." Und was, wenn ich doch Angst habe? Angst vor dem Fall, Angst vor der Höhe, Angst vor dem Neuen, dem Ungewohnten.
Warum mache ich das eigentlich?
Es ist wie eine Suche. Eine Suche nach dem Moment in dem noch ein kleines bisschen mehr geht. Nach dem Moment in dem die absolute eigene Grenze erreicht ist. Eine Suche nach der Anerkennung anderer und dem Gefühl, stolz auf sich sein zu können. Es ist die Suche nach dem Kick. Nach dem Flow, nach dem Limit. Dem Gehen über die Grenze und dem Bleiben unter der Grenze. Sich selber anders und neu erfahren, sich kennenlernen.
Warum ich das eigentlich mache? Einfach, weil es keiner versteht!
Keiner, der je nachvollziehen und spüren kann, was in mir vorgeht, wenn ich an einem der Masten hochklettere, keiner, der weiß, wie viel Angst ich wirklich habe, wenn ich scheinbar mühelos über die Plattform turne. Keiner, der weiß, wie sich meine Gedanken zu drehen beginnen, wenn ich mich beim Klettern oben hängend selber umsichern muss und keiner, der weiß, wie sehr es mich wirklich ärgert, wenn ich den Karabiner mal wieder nicht aus der Selbstsicherung bekomme. Niemand wird je nachvollziehen können, was ich gedacht habe, als beim Klettern der Karabiner für die Pilotschnur zu weit weg war und ich mich umsichern musste. Und keiner kennt den Druck in mir, wenn es ans Retten geht. Niemand kann die Ruhe spüren, die ich in mir habe, wenn ich vertrauen kann. Vertrauen in die, die sichern, Vertrauen in die, die halten, Vertrauen in die, die mit mir klettern, mich blind oben führen. Vertrauen derer in mich, die mir blind vertrauen, die mir vertrauen, das ich sie halte, sie führe, dass ich da bin.
Warum mache ich das eigentlich?
Eine Frage, die sich auf 10 Metern Höhe schon mal stellt. Kurz vorm Sprung ins schlaffe Seil, kurz vorm Abseilen, selber umsichern, vorm Betreten der von den anderen gehaltenen Balken, kurz bevor ich die Schaukel auslöse, kurz vorm Sprung auf die andere Seite, kurz vor dem Moment, in dem ich mein Gewicht voll gegen den Anderen lehne, kurz vorm Beklettern des Pfahles, wenn das gemeinsame Stehen dort oben schier unmöglich scheint. Wenn der Regen alles durchnässt, es eiskalt ist und der Wind uns wegzuwehen scheint.
Immer wieder diese Frage: Warum mache ich das eigentlich? Einfach, weil es keiner versteht!
Weil es viel mehr ist, als je in Worte zu fassen ist. Viel mehr Erfahrung, viel mehr Gruppe, viel mehr Ich, viel mehr Erlebnis. Weil es bei jedem einzigartig ist, weil es das ganze Innere, den ganzen Körper, einfach den ganzen Menschen betrifft und bewegt. Weil es so unglaublich ist zu beobachten, was jeder Einzelne zu erleben scheint, was sich in jedem Einzelnen zu bewegen scheint, und was die Gruppe verändert und bewegt. Und dabei klar zu haben, dass wir es so wirklich nie verstehen werden.
Es geht um Angst. Und um Respekt.
Es geht um Vertrauen. Vertrauen, als Gegenteil von Angst.
Es geht um alles.
Warum ich das eigentlich mache? Einfach, weil es keiner versteht!
Ich nehme die Hände an den Klettergurt und zähle wie besprochen laut 3,2,1, gehe einen Schritt nach vorne und falle. Ein Schrei kommt aus meinem Mund und schon hänge ich einige Meter tiefer sicher im Gurt. Die Drei unten haben mich sicher gehalten und lassen mich langsam runter. High five und ein „Danke“ an die Drei ist mir ganz wichtig, kaum dass ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Was am Ende des Tages bleibt? Ein breites Grinsen. In ausnahmslos allen Gesichtern und auf jeden Fall eine ganze Menge Stolzsein!
Text: Laura Meemann
Infos zum Hochseilgarten Dülmen finden sich im Netz auf
www.hochseilgarten-duelmen.de